Die Kantate, die den Zyklus der Missa poetica eröffnet, trägt den Titel ‚Lied der Armut‘. Wenn wir den Text vordergründig lesen, beschreibt er in der ersten Zeilen nichts weiter als die Entwicklung eines Regengusses: Zunächst einzelne Tropfen, die fallen, dann ein Rinnen in ‚Schnüren‘. Doch spätestens hier stolpert man über den Fortgang des Textes, wenn die Lyrikerin Silja Walter davon spricht, wie einen dieser Regen verführen will, zu weinen und zu knien - um dann in eine Frage zu münden: was der Regen, wenn er auch in Strömen gösse, ihr denn nehmen könne. Schlicht die Antwort: er glättet nur das Haar. - Doch der Regen schwillt weiter an, lässt die ‚Traufen überlaufen‘ - auch da bleibt die Dichterin im Herzen still und klar - unbeirrt weiss sie, dass der Mond wieder auferstehen wird - hinter allem weiss sie ‚einen, der mich liebt‘.
Der vordergründige Regenguss wird hier zum Bild für die Turbulenzen, in die unser Leben gleiten mag, die uns nur allzu oft in Aktionismus und Hektik treiben wollen, verführen zu Trost- und Mutlosigkeit…
Musikalisch zentral, um die Aussage-Schichten klingend zu verbinden, ist das Englischhorn als Soloinstrument der Missa poetica. Sein Motiv ist hier ein gleichmässiges Fallen, das stets aufgehoben wird, das nie den Boden verliert und immer wieder nach oben gezogen wird - selbst dann, wenn die Traufen im Klang der Streicher überlaufen, ist da im letzten ein Gehalten-sein, ein tragender Grund über (!) allem.
Als Eröffnung eines Gottesdienstes will diese Kantate zu Hoffnung ermutigen und zu einem Ankommen und Hiersein mit aller Not und allen Turbulenzen. Der Gottesdienst soll die Erfahrung ermöglichen, dass einer da ist, ‚der mich liebt‘. - Angemerkt sei: es gibt im ganzen Text keine Aussage dazu, was dafür getan werden muss - es ist die Gewissheit von ‚Geliebt-sein‘, die alles durchtönt und einen im Leid trösten und aufrichten will, - nicht nur im Gottesdienst, sondern auch im Konzert und letztendlich im Alltag. - Das ‚Lied der Armut‘, der Erfahrung eigenen Ungenügens und Unvermögens, dem Ausgeliefert-sein an die Unbilden des Lebens wird hier transformiert zu einer Erfahrung von Reichtum: im bedingungslosen Geliebt-sein, für das ich nichts leisten - mich nur öffnen muss. Sr. Maria-Amadea