Am 12.4.2014 sind wir auf unsere Tour durch Nordamerika gestartet. Zuerst durch den Osten Kanadas (Nova Scotia, New Brunswick, Quebec, Ontario), dann durch den Mittleren Westen und den Westen der USA. Nach 154 Tagen im Fahrradsattel und 8500 km haben wir unser Ziel erreicht: San Francisco!
Ein kleiner Rückblick auf die letzten eineinhalb Monate, den letzten, härtesten und auch schönsten Teil unserer Reise:
Utah, 13.8. – 26.8.2014: Monticello – Natural Bridges – Glen Canyon – Capitol Reef/Fruita – Lion Mountain – Escalante – Bryce Canyon – Cedar City
Bei unserem letzten Stop in Colorado erfahren wir von unseren Gastgebern, was uns erwartet: Utah ist der härteste Abschnitt des Western Express. Steigungen, Hitze, kein Wasser. Dafür atemberaubende Landschaft. Sie haben nicht übertrieben...
Schon gleich hinter dem Willkommens-Schild von Utah beginnt die Landschaft mit trockener, roter Erde. Wir sind gespannt. Nicht lange. Wir sind gleich mittendrin in der bizarren Umgebung Utahs. Gigantische rote Felsformationen, durch die sich der einsame Highway windet. Mit schnellen Abfahrten und heftigen Steigungen fahren wir durch steile, karge Täler und über rote Hügelketten. Am Wegesrand immer wieder Ruinen von jahrhundertealten Felswohnung der Anasazi (Pueblo-Indianer). Ansonsten ist die Landschaft leer, keine Dörfer, keine Zivilisation, kaum Verkehr. Meistens ist es ganz still, man hört nichts, bis man irgendwann das leise Rauschen eines noch weit entfernten Autos hört. Das Land gliedert sich in bizarre Felstürme, Plateaus, Kliffs, Kegel. Es scheint als seien die Felswände riesige Fresken mit abstrakten Figuren, man glaubt, Gesichter zu erkennen. Dann verändert sich die Landschaft wieder und wir fahren durch eine Mondlandschaft aus grauen gezackten Bergketten und grauen, mit violetten Streifen durchzogenen, sandigen Hügeln. Es ist, als würden wir durch ein surreales, abstraktes Gemälde fahren. Es ist unglaublich. Unsere Route führt uns auch nach Fruita, ein Tal im Nationalpark Capitol Reef, das tatsächlich so fruchtbar ist, wie sein Name. Fruita ist eine ehemalige mormonische Siedlung und inzwischen eine Touristenattraktion. Das Tal hat verblüffend viel Wasser und die frühen Siedler habe üppige Obstgärten angelegt. Nach vorwiegend grau und rot plötzlich eine grüne Oase! Dann geht es weiter durch Berge und Täler, nur selten eine kleine Stadt.
Rückblickend war Utah nicht unbedingt der härteste Teil unserer Reise aber auf jeden Fall der schönste und intensivste. Die Steigungen waren teilweise so heftig, dass sie auf dem Höhenprofil der Karte vertikal aussahen. Es war heiss und es gab nur wenige Versorgungsmöglichkeiten. Einmal hatten wir Hitze, Steigungen und damit unseren Wasserbedarf falsch eingeschätzt. Schon nach drei Stunden waren unsere Flaschen leer. Wir haben uns noch ein paar weitere Stunden zur nächsten Ortschaft gequält. Dabei hatten wir ausführlichst Zeit zu lernen, was es heisst, Durst zu leiden. Endlich im Dorf angekommen, sind wir direkt zur nächstbesten Flüssigkeitsquelle, eine Tankstelle am Ortseingang: einen Liter Eistee gekauft und einen Sack Eiswürfel und damit auf eine Sitzbank vor dem Laden. Eine amerikanische Familie war unterdessen total interessiert an uns, hat uns Fragen gestellt: woher, wohin, wie lange, wie weit? Unsere Antworten: ja, nein, hmmm. Wir wollten nur trinken, abkühlen und den Nebel aus unserer Wahrnehmung vertreiben. Das war eine harte Erfahrung, seitdem haben wir immer genügend Wasser mitgenommen.
Nevada, 27.8. – 8.9.2014: Sacramento Pass – Ely – Eureka – Austin – Middlegate Station – Fallon – Carson City
Diesmal hat uns niemand vorgewarnt. Nevada ist härter als Utah, viel härter. Wir sind körperlich erschöpft, seit Colorado nehmen die Steigungen kein Ende. Die Rocky Mountains sind zwar überwünden aber deshalb ist es noch lange nicht flach.
Zudem ist Nevada karg, grau, öde, leer. Zum Glück haben wir unsere Fahrradkarte, die uns deutlich macht, dass es zwischen Verpflegungsmöglichkeiten (Wasser!) fast immer Strecken von 90 bis 130 km gibt. Dort gibt es nichts, aber auch gar nichts gibt. Kein Wasser, keine Tankstellen, keine Dörfer, nichts.
Die ersten Tage sind wir noch gut gelaunt und freuen uns über die weite Aussicht in die schier endlosen Täler. Wir fahren genau quer zur aufgefalteten Landschaft Nevadas. Durch ein weites Tal, auf einer schnurgeraden Strasse hoch auf die Bergkette, dann wieder geradeaus runter in ein weites Tal, dann wieder geradeaus hoch über die nächste Bergkette, dann wieder runter ins Tal. Und so weiter. Wir haben jeden Tag ein bis drei solcher Gipfel vor uns und nach den ersten zwei Tagen kommt es uns fast unerträglich anstrengend vor. Vor allem weil uns die Landschaft nicht dafür entschädigt. Eine ewig gleiche Ödnis, eine Wüste mit trockenen Salbeibüschen in den Talebenen und höheren, struppigen eiben-ähnlichen Büschen auf den Hügelketten. Deprimierend. Was uns ein bisschen aufmuntert, ist der weite Himmel und das Schauspiel der Wolken, der Farben und des Lichts bei Gewittern. Besonders abends geniessen wir die Einsamkeit und die Stille, wenn wir in dieser leeren Landschaft irgendwo wild campen. Es fasziniert uns wie leise die Wüste ist, nur das Summen der Insekten, ab und zu das Flügelschlagen eines Nachtvogels und das schrille Heulen der Coyoten am frühen Morgen. Die Schlangen sind lautlos.
Alle paar Tage fahren wir durch kleine, staubige, halbverlassene Städte mit Western-Flair: dunkle Holzfassaden, holzgetäfelte düstere Bars und Gaststätten, vollgehängt mit allem, was gejagt und ausgestopft werden kann: Hirsche, Pumas, Elche. Überall Geweihe. Kurz vor Fallon bleiben wir über Nacht bei der Middlegate Station, eine uralte, windschiefe Raststätte mit sensationell billigen Zimmern, mitten im Nirgendwo. Hier leben eine handvoll Menschen in Wohnwägen, ein paar schräge, bärtige Gestalten im Hof halbverfallene, verrostete Überreste von einer Pferdekutsche und alten Autos. Die Burger sind dafür üppig und fettig, das Bier gut. Das ist Nevada.
Eine erfrischende Aufmunterung sind zwei Rennradfahrer, die uns auf einer steilen, einsamen Strasse begegnen. Wir kommen natürlich ins Gespräch und sie laden uns zu sich nach Hause, in Fallon, ein. Dort lernen wir die ganze Familie kennen, alle drei kleinen Kinder haben die passenden Mini-Cowboystiefelchen, die Frau des Hauses ist eine leidenschaftliche Reiterin, der Mann ist Hufschmied. Es gibt Fleisch vom Grill, Bier und wir dürfen eine Runde auf dem Pferd reiten. Ein wunderschöner Westernabend...
Kalifornien, 9.9. – 16.9.2014: Woodfords – Placerville – Sacramento – San Francisco
Endlich: die letzten Berge vor uns – die Sierra Nevada. Wir träumen vom Meer. Kurz hinter Carson City fahren wir rein nach Kalifornien und sofort ändert sich die Szenerie. Es geht bergauf, plötzlich alpine Felslandschaft, riesige Nadelbäume, moosbewachsene Steine. Es gibt wieder massenhaft Schwarzbären, jeden Abend werden wir vor hungrigen Bären gewarnt, die sich für unser Essen interessieren könnten. Also wird die Essenstasche wieder aufgehängt, was dank der Bäume auch wieder möglich ist. Die Sierra Nevada ist malerisch, endlich ist es wieder grün, kühler, zivilisierter, touristischer. Aber auch voller. Nach einer schönen Abfahrt Richtung Placerville landen wir auf dicht befahrenen Überlandstrassen, die uns durch eine idyllische Obst- und Weinbauregion führen. In Placerville entscheiden wir dann, dass wir von Sacramento bis Oakland den Zug nehmen – vor uns liegen nur noch Ortschaften oder dicht befahrene Strassen mit sehr viel Verkehr. Dann endlich unsere letzten Fahrt: mit der Fähre von Oakland nach San Francisco, dann mit dem Fahrrad von der Anlegestelle zur Golden Gate Bridge. Am Ziel!!! 8500 km!!! 154 Tage auf den Rädern gereist! Zwei Ozeane, zwei Länder, vier Provinzen, zehn Staaten! Nur elf Regentage, nur sechs platte Reifen! Und ganz viele wunderbare Menschen, die uns bei sich aufgenommen, uns Essen, Wasser und ein Bett gegeben und uns in jeder erdenklichen Weise unterstützt haben. Jede Menge Abenteuer!
Wir geniessen die restlichen vier Tage in San Francisco: freuen uns über ein Bett, eine immer verfügbare Dusche, die Metro und stürzen uns völlig ausgehungert in das Stadtleben. Aufs Fahrrad steigen wir in diesen Tagen nicht mehr.
Berlin/Rückblick, 17.9.2014 - dato
Wir sind nun zurück in der neuen Heimat Berlin. Die ersten 10 Tage kam uns die Reise fast unwirklich vor, wir haben uns mehrmals gefragt: waren das wirklich wir, die quer durch Nordamerika gefahren sind? Aber ja, wir waren es.
Es braucht ein bisschen Abstand, um zu realisieren, was wir die letzten sechs Monate erlebt haben. Klar ist, dass je weiter wir nach Westen gefahren sind desto intensiver auch unsere Erfahrungen geworden sind. Eines unserer ultimativen Highlights war auf jeden Fall die bizarre Landschaft Utahs. Aber auch die Menschen und ihre Geschichten wurden intensiver. Mehrmals sind wir in Situationen geraten, wo wir uns unfreiwillig krasse politische Einstellungen anhören mussten. Das hat uns tage- oder sogar wochenlang verstört und uns auch dazu angeregt, genauer über unsere eigenen Weltanschauungen nachzudenken. Diese Extreme, die es in den USA gibt, kennen wir weder aus Kanada noch aus Europa. Es gibt wenig gemässigte Meinungen, dafür viel schwarz oder weiss. Anscheinend haben einige Menschen unter der Krise gelitten, sind frustriert und haben sich daher, unserer Ansicht nach fundamentalistischen, Ansichten zugewendet.
Gleichzeitig haben wir viele Menschen getroffen, die sehr zufrieden und offen sind und das Leben geniessen – und das alles auch sehr gerne mit uns und anderen Menschen teilen. Wir sind nach wie vor beeindruckt von der Offenheit und Gastfreundlichkeit der Amerikaner. In Europa meint man oft, Amerikaner seien oberflächlich, Einladungen seien nur Floskeln. Wir haben andere Erfahrungen gemacht. Leute, die uns eingeladen haben, haben uns auch tatsächlich erwartet. Uns wurden alle Türen und Herzen geöffnet, voller Vertrauen. Das ist unser zweites ultimatives Highlight!
Es war eine fantastische Reise, wahrscheinlich soweit die beste unseres Lebens. Obwohl (oder vielleicht: weil) es anstrengend ist und einen manchmal an die körperlichen und mentalen Grenzen bringt, ist für uns das Fahrrad das perfekte Fortbewegungsmittel auf einer Reise. Zusammen mit einer Campingausrüstung macht es uns sehr unabhängig und flexibel. Gleichzeitig sind wir immer nah am Geschehen, nah an den Menschen. Sobald man auf einem Fahrrad sitzt, wird einem zudem viel Vertrauen entgegengebracht. Da man als Fahrradfahrer im Vergleich langsam, schwerfällig und sehr exponiert ist, ist man offensichtlich harmlos und ziemlich durchschaubar. Die meisten Menschen gehen recht offen auf uns zu.
Bei unserer Reise durch Nordamerika haben wir auch sehr davon profitiert, dass wir immer und überall (ausser in Quebec...) auf Englisch kommunizieren konnten. So war es möglicht, schon innerhalb kürzester Zeit jemanden kennenzulernen und sich tiefergehend auszutauschen. Eben mehr als eine Verständigung mit Händen und Füssen bezüglich Bett und Essen. Obwohl wir die meisten Menschen nur über ein paar Tage kennenlernen konnten und dann wieder weitergefahren sind, haben wir das Gefühl, auf dem Weg Freunde und Freundinnen gefunden zu haben.
Die nächste Zeit werden wir uns unserem Buchprojekt „Snapshots. Stories about Heimat“ widmen. Im ersten Schritt werden wir unsere Reiseaufzeichnungen überarbeiten, die Geschichten zusammentragen und die Fotos aussortieren und bearbeiten. Dann kümmern wir uns um Konzept, Layout und Verlag. Voraussichtlich ist das Buch im Februar 2015 fertig zum Druck.
Berlin, 1.10.2014
Natalie Stocker & Piotr Margiel